Interview - Historiker: "Es geht Putin um die Zerstörung der ukrainischen Nation"

Was kann Putin dazu bewegen, den Krieg in der Ukraine zu beenden? Dem Historiker Martin Schulze Wessel zufolge hat der Westen darauf wenig Einfluss. Vieles spreche dafür, dass der Krieg noch lange dauern werde.

Der russische Oligarch Oleg Tinkow fordert den Westen auf, Putin eine gesichtswahrende Möglichkeit zu geben, aus dem Krieg auszusteigen. Schulze Wessel widerspricht, der Westen sei hier nicht in der Pflicht. "Vom Westen kann ja nicht erwartet werden, und von der Ukraine auch nicht, dass Putin und Russland jetzt mit den Kriegsgewinnen und den territorialen Okkupationen, die sie bislang gemacht haben, davon kommen", so der Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Da Putin als Diktator in Russland selbst das Deutungsmonopol habe, könne er sich selbst eine gesichtswahrende Begründung für ein Ende des Krieges zurecht legen.

Historiker: Kriegsverbrechen Teil des Kalküls

 

Putin folge einer bestimmten historischen Mission. Möglicherweise könne der 9. Mai als historisches Datum ein Zielpunkt seines militärischen Vormarsches sein. "Dann ist ganz klar, dass diese Ziele, die erreicht werden sollen, historisch aufgeladen werden und damit auch um jeden Preis erreicht werden sollen, also auch um den Preis von Kriegsverbrechen und von Völkermord", sagt der Historiker.

"Es geht Putin um die Zerstörung des ukrainischen Staates und auch der ukrainischen Nation", sagt Wessel Schulze. Kriegsverbrechen lägen deshalb im Kalkül der Kriegsführung. Möglicherweise werde Putin die Kampfhandlungen am 9. Mai beenden, doch damit sei der Krieg nicht vorbei. Man habe dann vielleicht eine völkerrechtswidrige Situation, in der Teile der Ukraine von Russland besetzt seien. Damit könne sich weder die Ukraine noch die westliche Staatengemeinschaft abfinden. "Insofern spricht viel dafür, dass wir am Anfang eines längeren Krieges stehen", so Wessel Schulze.